In den vergangenen Wochen habe ich mir die gesamten Sopranos ein zweites, zum Teil sogar ein drittes Mal angesehen. Eine überaus lohnende Zeitinvestition, denn bei einer erneuten Sichtung kann man sich auf Feinheiten konzentrieren. Die Hauptaufmerksamkeit muss nicht mehr dem verwobenen Plot mit seinen unzähligen Figuren gewidmet werden. Stattdessen kann bewusst auf Vorausdeutungen geachtet werden. Es können schauspielerische Nuancen wahrgenommen, Kameraführung und Schnitt eher analytisch betrachtet werden. Und nach fast jeder Folge stellt man bei den Sopranos fest: Die Episode ist so kunstvoll geschrieben, bebildert, gespielt und geschnitten – es wären zwei oder drei weitere Durchgänge notwendig, um sie in ihrer Komplexität wirklich zu durchdringen. Wann kann man das schon über eine Fernsehserie sagen? Mein Güte, wann kann man das über einen Film sagen?
Im Grunde sind die Sopranos ohnehin der Gattung des Spielfilms näher als der der TV-Serie. Der behäbige Erzählgestus, überhaupt das entschleunigte Tempo, mit der sich die Handlung entfaltet, steht eindeutig in der Tradition des klassischen Erzählkinos. Jede einzelne Folge ist wie ein kurzer Independentfilm. Mit gewöhnlichem TV-Serien haben die Sopranos nicht viel gemein.
David Chase: Das Genie hinter der Kamera. Chase schuf die Serie und hat offiziell dreißig Episoden geschrieben. Ohne sein Placet wurde jedoch kein final draft realisiert. Zur spektakulären letzten Szene der Serie sagte er in einem Interview: "I have no interest in explaining, defending, reinterpreting, or adding to what is there."
Natürlich zollen die Sopranos der Godfather-Reihe ordentlich Tribut. Erfolgen in den ersten Episoden die Hommagen an den Paten noch häufig und überaus plakativ (z. B. durch offen ausgesprochene Zitate), reduziert sich die Anzahl derartiger Anspielungen im weiteren Verlauf. Nun werden sie eher motivisch integriert (z. B. Pferde-Handlung in Staffel 4). Die Sopranos reifen also mit der Zeit, werden immer erwachsener. In Staffel 5, zu einem Zeitpunkt, an dem die Macher nichts mehr zu befürchten brauchten, weil die Serie erfolgreicher war, als man je zu träumen gewagt hatte, begann man zu experimentieren und Grenzen auszuloten. So testet eine knapp 25-minütige Traumsequenz, die in einer Vielzahl aneinandergereihter Kurzszenen einmal mehr Tonys kompliziertes Unterbewusstsein abbildet, sicherlich auch die Nerven manch eines hartgesottenen Sopranos-Fans. Derartiges traute man sich nicht einmal in Six Feet Under, einer HBO-Serie, die ausgiebige Traumsequenzen von Beginn ins Konzept eingebaut hatte.
Um aus den insgesamt 86 Folgen – die Serie hat eine Gesamtspielzeit von fast 4600 Minuten, also nicht ganz 77 Stunden – die besten zu bestimmen, habe ich jede einzelne Folge mit einer Punktzahl zwischen 1 und 10 bewertet. So ist es mir nicht nur möglich, die glorreichen 7 zu bestimmen, ich kann auch die Staffeln in eine Reihenfolge bringen, indem ich den jeweiligen Punkte-Mittelwert bilde. Allerdings liegen die sechseinhalb Staffeln allesamt eng im Achtpunktebereich beieinander. Knapper Spitzenreiter ist Season 3.
Folge 6.07: Luxury Lounge
Nach einem beinahe experimentell langsamen Staffelauftakt, der sich vor allem mit Tonys Komaträumen befasste, ist Luxury Lounge die erste Episode dieser Season, in der recht viel geschieht – wenn auch nicht bezüglich der Haupterzählstränge. Doch das macht diese Folge in meinen Augen sehr sympathisch. Denn hier kann eine Hintergrundfigur endlich aufspielen: Artie Bucco, der Chefkoch: eine so wundervoll realistische Figur in diesem Zoo übergroßer Mafiagestalten! Artie kämpft in Luxury Lounge erneut mit seinen Gefühlen gegenüber einer attraktiven Angestellten, versucht verzweifelt seine Empfindungen herunterzuschlucken. Doch es gelingt ihm nicht und er provoziert einen Streit mit einem kleinen Soldaten. Auch die B-Handlung ist exzellent: „Filmproduzent“ Christopher reist mit Carmine nach L.A. Dort will er Ben Kingsley die Rolle des Bosses in seinem Mafia-Slasher „Cleaver“ aufschwatzen. Es misslingt. In einer unglaublichen Szene überfällt er deshalb Lauren Bacall und beraubt sie ihrer wertvollen Sponsoren-Geschenke. Eine fantastische Folge. Fuuack.
Folge 3.01: Mr. Ruggerio's Neighborhood
Alle Season-Openings hätten es verdient, in dieser Liste aufzutauchen. Erwähnt sei an dieser Stelle die eindringliche Montage zu Beginn von Staffel 6, die zu den poetischen Worten William H. Burroughs und lässiger Trance-Musik das Jahr zusammenfasst, welches seit dem Ende von Staffel 5 vergangen ist. Die erste Episode von Staffel 3 nimmt als erste und einzige überwiegend die Perspektive der FBI-Agenten ein. Um einen Rico-Fall gegen Tony Soprano eröffnen zu können, muss Beweismaterial gesammelt werden. Dafür will das FBI eine Wanze in sein Anwesen einschleusen. Deshalb werden Tony und seine Familie inklusive der Haushälterin rund um die Uhr überwacht. Schließlich wird nach gründlicher Analyse eine Tischlampe aufwendig nachgebaut und in Tonys Villa ausgetauscht. All diese Aktionen werden in ihrer Inszenierung natürlich ironisch gebrochen. Die Verfolgungen, Überwachungen, Einbrüche, Analysen und Methoden des FBI werden in ihrem Perfektionismus lächerlich gemacht. Einige Folgen später wird der teure Coups des FBIs quasi nebenbei komplett ad absurdum geführt. Nichtsdestotrotz bereitet es einen Heidenspaß, den Gegnern Tonys bei der Arbeit erstmals über die Schulter gucken zu dürfen.
Folge 2.07: D-Girl
Als D-Girl („Development Girl“) bezeichnet man in der Film-Predproduction eine Frau, die nach Filmstoffen für Drehbücher Ausschau hält und Kurzfassungen von Scripts verfasst. Chris verfällt in dieser Episode einem solchen D-Girl, während A.J. etwas tut, was völlig untypisch für ihn ist: Er macht sich Gedanken. Und zwar nicht irgendwelche, nein, existenzialistische Gedanken zu Nietzsches Schriften! Natürlich wird Christopher ausgenutzt und natürlich löst A.J. keine philosophischen Grundfragen, sondern wird beim heimlichen Kiffen erwischt. Wie heißt es so schön in The Black Dahlia: „Hollywood fucks you when no-one else will!“ Diese Lektion lernt Christopher Molitsanti in doppelter Hinsicht.
Folge 4.09: Whoever Did This
Als Ralphies Sohn im Garten mit Pfeil und Bogen Lord of the Rings spielt, trifft ihn ein Pfeil und verletzt ihn lebensbedrohlich. Ralph ist am Boden zerstört. Dennoch glaubt Tony, dass Ralph für den Brand im Stall seines geliebten Rennpferdes Pie-O-My verantwortlich ist und zieht ihn dafür (und für all seine anderen Vergehen) zur Rechenschaft. Der wahrscheinlich brutalste Zweikampf der Serie ist die Folge: eine dreckige Prügelei in einer geräumigen Küche, bei der reichlich Küchenutensilien zum Einsatz kommen. Ralph unterliegt Tony und seine Leiche wird von Tony und dem vollgedröhnten Chris entsorgt. – In Whoever Did This kulminieren viele Erzählstränge der letzten Folgen, werden zu einem unerwartet plötzlichen Abschluss gebracht. Gleichzeitig wird geschickt das Fundament für die weitere Entwicklung zwischen Tony und Chris gelegt. Ein fantastisches Drehbuch, das die psychologisch ausgefeilten Charaktere glaubwürdig an ihr Limit treibt und dadurch Spitzenleistungen aus den Schauspielern herauskitzelt. Joe Pantoliano at his best!
Folge 1.01: Pilot
Wie der geniale David Chase in einem Interview auf der DVD erklärt, besteht der Witz der Serie darin, dass der Gangsterboss eine Psychotherapie beginnt, weil er den Egoismus um sich herum nicht mehr ertragen kann. Tony Soprano, der egozentrischste aller Gangster, das absolute Alphamännchen, leidet unter dem, was ihn zu dem macht, was er ist. Der Pilot der Sopranos schafft es ganz wunderbar, uns direkt in die Unterwelt New Jerseys einzuführen, die wichtigsten Figuren vorzustellen und die Ausgangssituation (Boss leidet unter Panikattacken) glaubhaft zu etablieren. Das meiste davon wird in einem Rückblick erzählt, als Tony bei seiner Therapeutin Dr. Melfi sitzt und sich windet, um nicht zu viel auszuplaudern. Der ironische Blick auf die Gangsterwelt ist hier zwar noch dicker aufgetragen als in späteren Episoden, doch das schadet nicht, denn es macht von Beginn an deutlich, wohin die Reise gehen wird. Neben der letzten Folge ist diese die einzige, bei der David Chase persönlich Regie führte. Schon hier wird deutlich, wie raffiniert Chase Musik zum Erzählen einzusetzen versteht.
Folge 1.05: College
Tony und Maedow reisen nach Maine, um sich Colleges anzusehen, die Maedow besuchen könnte. An einer Tankstelle erkennt Tony einen alten Bekannten, der ins Zeugenschutzprogramm gegangen ist. - College ist eine einzigartige Folge, weil sie im Kern losgelöst von übergreifenden Handlungssträngen steht. Man kann diese Episode sehen, ohne die Figuren der Sopranos zu kennen. Sie hat ihren eigenen Spannungsbogen samt Auflösung. Etwas, was für die Sopranos eher untypisch ist. College ist aber auch eine der am schönsten beleuchteten Episoden. Es hat den Anschein, als ob David Chase hier einen kleinen Film Noir drehen wollte. Die Low-Key-Beleuchtung ist jedenfalls von atemberaubender Eleganz und erzeugt eine visuelle Dynamik, die zur Spannung von College maßgeblich beiträgt. Ein echter Leckerbissen.
Folge 3.11: Pine Barrens
Pine Barrens (Regie: Steve Buscemi) ist nicht nur ein komödiantischer Höhepunkt der Serie, die Folge legt auch die Verlogenheit einer wesentlichen Mafiosi-Eigenschaft frei. - Chris und Paulie müssen sich unvorbereitet im eisigen Wald durchschlagen, nachdem der Mord an einem russischen Ex-Elitesoldaten schiefgegangen ist. Die zwei verlaufen sich und sind gezwungen, ohne Ausrüstung und Verpflegung bei tiefen Temperaturen im verschneiten Wald zu übernachten, ja zu überleben. Zunächst noch durch ihren gemeinsamen Groll auf den widerborstigen Russen im Geiste vereint, zerstört der Überlebenswille all die familiären Bande und sät Misstrauen und Hass gegenüber dem anderen. Innerhalb kürzester Zeit sind die hehren Mafia-Werte nichts mehr wert. Eindrucksvoll beweist Buscemi in Pine Barrens sein Talent fürs Komische auch hinter der Kamera. Keine andere Folge spielt den schwarzen Humor der Sopranos so konsequent aus. Besser geht’s nicht.
6 Kommentare:
Naja, du kennst ja meine Meinung zur Serie, die ich inszenatorisch zwar durchaus für gut halte, dennoch als überbewertet erachte (und sei es nur in dem vergötternden Sinne, wie du es selbst in der Einleitung gepflegt hast).
Es verwundert daher also nicht, dass ich Folgen wie "Mr. Ruggerio's Neighborhood", "College" oder "D-Girl", die ich hinsichtlich meiner gut 2 1/2 Staffeln, die ich von den Sopranos kenne und somit auch gesehen habe, jetzt nicht als wirklich berrauschend und schon gar nicht als kleine Independent-Filme betrachten würde.
Aber gut, als Fan einer Serie sieht man diese natürlich anders, als Leute wie meiner einer, die sie für ganz nett, aber nicht ihr cup of tea erachten. Und letzlich ist die Hauptsache doch: Jochen hat wieder mal gepostet und dann gleich noch die Glorreichen Sieben.
Naja, du kennst ja meine Meinung zur Serie, die ich inszenatorisch zwar durchaus für gut halte, dennoch als überbewertet erachte (und sei es nur in dem vergötternden Sinne, wie du es selbst in der Einleitung gepflegt hast).
Vergöttern find ich jetzt etwas übertrieben. Schließlich habe ich nur PINE BARRENS eine 10-Punkte-Bewertung gegeben. Die Serie steht für mich mit Deadwood, Rome und Six Feet Under aber ganz eindeutig im Serien-Pantheon. Im Gegensatz zu anderen guten Serien wie 24, Lost, Dexter usw. kann ich mir die HBO-Serien mehrfach ansehen, ohne mich zu langweilen, weil es immer noch Neues zu entdecken gibt. Solche Filme mag ich sehr (s. De Palma) und bei den Serien ist es ebenso.
nicht ihr cup of tea
Das ist wohl wahr. Wer mit der (modernen) Mafia nichts anfangen kann, der sollte fernbleiben. Mich würde diesbezüglich interessieren, wie dir Goodfellas und Casino gefallen haben...
Und letzlich ist die Hauptsache doch: Jochen hat wieder mal gepostet und dann gleich noch die Glorreichen Sieben.
Yo :-) Wobei ich in den letzten Wochen ja bereits einiges gepostet habe. Nun sind die Ferien aber vorüber, die letzten Prüfungen stehen ins Haus, dann ein Umzug und ein neuer Job. Es ist also absehbar, dass es demnächst leider wieder stiller wird.
Naja, da unterschätzt du LOST aber, wenn du unterstellst, dass man beim mehrmaligen Sehen nichts Neues entdecken könnte. Aber da sieht man ja, die einen mögen dies, die anderen das (von ROME halte ich noch weniger als von den SOPRANOS).
P.S.: Goodfellas und Casino finde ich beide relativ gut, letzteren erachte ich sogar als den letzten guten Scorsese.
Naja, da unterschätzt du LOST aber, wenn du unterstellst, dass man beim mehrmaligen Sehen nichts Neues entdecken könnte.
Mag ja sein, dass man da noch einige Kleinigkeiten aufspüren kann. Aber die Spannung ist einfach raus, weil man weiß, worauf diese Episode hinausläuft. Bei den Sopranos steckt so viel im Unausgesprochenen, in Andeutungen. Was ja irgendwo logisch ist, weil die meisten Figuren die überwiegende Zeit lügen. Da ist der Zuschauer gezwungen, sich eine eigene Wahrheit konstruieren.
Sehe ich ganz ähnlich, was die Qualität der Serie angeht.
http://filmgaffer.blogspot.com/2010/01/1.html
Mehrere Folgen, die Du genannt hast, zähle ich auch zu den besten Folgen.
David Chase ist von Anfang an ungewöhnliche Erzählwege gegangen.
Traumsequenzen und surreale Elemente gab es schon in der 1. und 2.Stafell, etwa in "Funhouse" oder "Isabella".
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