Sonntag, Juli 27, 2008

Gedrucktes: Different Seasons

Eine „Novella“ (oder: „Novelette“) habe gemeinhin eine Länge von 25.000 bis 35.000 Wörter, sei damit länger als eine Kurzgeschichte aber kürzer als ein gewöhnlicher Roman. Selbst den hartgesottensten Mainstream-Schriftsteller lasse die „Novella“ von Kopf bis Fuß erzittern, weil sie so gut wie gar nicht zu vermarkten sei. - Dies erklärt uns Stephen King in seinem Nachwort zu „Different Seasons“, einer Sammlung von insgesamt vier „Novellas“. Im Deutschen bezeichnen wir Geschichten wie jene in „Different Seasons“ als Erzählungen – mit dem Novellenbegriff sollte man vorsichtig umgehen, weil in der Germanistik (zumindest in den Feinheiten) bis heute ein Dissens über die Reichweite dieser literarischen Gattung herrscht.

Als „Different Seasons“ 1982 in die Regale der US-amerikanischen Buchhändler kam, war Stephen King schon so erfolgreich, dass er nun endlich auch seine „Novellas“ veröffentlichen konnte, die sich in den vorangegangen Jahren in der Schreibtischschublade angesammelt hatten. Sein Name war mittlerweile ein Markenzeichen für gute Horrorunterhaltung. Zwei Jahre zuvor hatte er noch die unlängst verfilmte Erzählung „The Mist“ in einer Horroranthologie zusammen mit anderen Schriftstellern publizieren müssen. Jetzt kümmerte es seinen Verleger wenig, dass es sich bei „Different Seasons“ nicht um einen Horrorroman, sondern um „Novellas“ handelte, die zudem noch jenseits des Genres angesiedelt waren. Hauptsache: Neues Lesefutter vom Meister für seine Jünger.

Obwohl „Different Seasons“ sicherlich nicht zu den meist gelesenen Werken im Œuvre Kings zählt, werden zwei Verfilmungen der Anthologie von Kritik und Publikum allgemein als herausragend angesehen: Die Adaption von „Rita Hayworth and Shawshank Redemption“ (Filmtitel: The Shawshank Redemption) befindet sich derzeit auf Platz zwei der Internet Movie Data Base Bestenliste, die Verfilmung von „The Body“ (Filmtitel: Stand by Me) auf Platz 161. Lediglich „Apt Pupilkann nicht so hoch punkten. Die umfangreichste und, neben dem unverfilmten Beitrag „The Breathing Method“ düsterste Geschichte, hat bei den Zuschauern ambivalente Reaktionen ausgelöst.

Stephen King ist meistens dann richtig gut, wenn er sich kurz fasst, wenn er auf den Punkt kommt, wenn er nicht ausschweifend erzählt. Damit meine ich nicht, dass sich die Qualität seiner Werke an der Seitenanzahl messen lässt. Schließlich hat King mehrere fette Schinken geschrieben, die schon heute zu den Klassikern der modernen Horrorliteratur zählen. Nein, Kings Tendenz, Nebensächlichkeiten hin und wieder überproportional aufzublasen, reißt mitunter auch den geneigtesten Leser aus der Geschichte. Legendär sind hierbei seine völlig aus dem Ruder gelaufenen Enden in „It“ und „The Stand“. King selbst weiß um diese Schwäche und hat sie mehrfach selbstkritisch eingestanden. - In „Different Seasons“ gibt es dieses Problem nicht. Die Form der „Novella“ lässt eine solch ausladende Erzählhaltung nicht zu. Das ist ein Grund dafür, warum dieser fünfhundert Seiten schmale Erzählband zum Besten zählt, was King bislang geschrieben hat.

Das Sujet dieser vier „Tales“ unterscheidet sich auf den ersten Blick komplett voneinander. „Rita Hayworth and Shawshank Redemption“ ist eine Gefängnisgeschichte, in „Apt Pupil“ wird geschildert, wie ein kalifornischer Knabe seiner Faszination an Konzentrationslagern erliegt. „The Body“ ist eine klassische Initiationsgeschichte, die vier Jungen auf ihrem Pilgerweg zu einer Leiche begleitet. Und im Zentrum der Rahmennovelle „The Breathing Method“ steht die Schwangerschaft einer jungen Frau, die von ihrem Liebhaber verlassen wurde.

Schaut man jedoch genauer hin, so lassen sich Gemeinsamkeiten zwischen den Geschichten erkennen. Die vier Erzählungen verbindet neben der offenkundlichen zeitlichen Nähe zueinander (alle spielen hauptsächlich zwischen 1950 und 1980) ein deterministischer Aspekt, der manchmal mit einem von Kings liebsten Themen, der Theodizee, verknüpft wird. Ein Beispiel: In „Apt Pupil“ erkennt ein ehemaliger KZ-Insasse nach langem Nachdenken seinen einstigen Peiniger etwa dreißig Jahre nach Ende des 2. Weltkriegs im Krankenhaus wieder. Sie teilen sich ein Zimmer. Der leicht verbitterte, die Existenz Gottes aufgrund seines harten Lebensweges kategorisch leugnende, alte Mann glaubt nun in seinem Krankenhausaufenthalt den wahren Grund zu erkennen: Gott habe ihn hierher geschickt, um die wahre Identität seines Zimmergenossen entlarven zu können. King lässt den alten Mann gleichzeitig auf wundersame Weise von seiner Wirbelsäulenfraktur genesen. - In „The Breathing Method“ hat sich von Beginn an das Schicksal gegen die schwangere Verkäuferin Sandra verschworen. Sie weiß es. Ihr Arzt weiß es. Doch er leugnet es im Gegensatz zu Sandra. - In „Rita Hayworth and Shawshank Redemption“ ringt Andy Dufresne mit seinem Schicksal, der fälschlichen Inhaftierung. Und in „The Body“ ist es das kurze Leben dreier der vier Jungen, das den Erzähler am Ende resignative Töne anschlagen lässt und ins Grübeln bringt, warum sich das Schicksal gegen seine Freunde verschworen hat, während der fiese Schläger Ace Merril noch lebt.

Morris Heisel in der Verfilmung von Apt Pupil: Er erkennt den Mörder seiner ersten Frau.

Darüber hinaus baut King ganz bewusst plakative Querverweise der Geschichten untereinander ein. So schafft er sein eigenes literarisches Universum. Arthur Dussander, der Alt-Nazi in „Apt Pupil“, bekommt von Andy Dufresne, dem Banker und Insassen in „Rita Hayworth and Shawshank Redemption“, profitable Anlagetipps. Und der Mörder von Chris in „The Body“ ist ein frisch entlassener Häftling aus Shawshank. Lediglich „The Breathing Method“ weist keinen direkten Bezug zu den anderen Erzählungen auf, wenn man einmal davon absieht, dass auch hier die unsympathischen Figuren von King oft als Wähler der Republikaner gekennzeichnet werden.

King begründet die Titelwahl der Anthologie damit, unmissverständlich klarstellen zu wollen, dass es sich hierbei nicht um Horrorgeschichten handelt. Zwar weist er im gleichen Atemzug auf die in den Storys enthaltenen Horrormotive hin, nachvollziehbar im Lichte seiner bisherigen Werke ist dieses Argument jedoch allemal. Allerdings leuchten die Zuordnungen nur ein, wenn man etwas um die Ecke denkt. Denn mit Ausnahme der „Breathing Method“, in der dem Winter tatsächlich eine handlungstragende Bedeutung zukommt, scheinen die Zuordnungen willkürlich, ja sogar unlogisch zu sein. So spielt „The Body“ größtenteils in den Sommerferien, ist aber dem Herbst zugeordnet. „Apt Pupil“ und „Rita Hayworth and Shawshank Redemption“ enfalten sich über mehrere Jahre. Sinn ergeben die Jahreszeitenmotive nur, wenn man sie mit den doppeldeutigen Anthologietiteln verbindet: „Hope springs eternal: Rita Hayworth and Shawshank Redemption“, „Summer of Corruption: Apt Pupil, Fall from Innocence: The Body“, „A Winter's Tale: The Breathing Mehod“. Freilich wirkt das konstruiert und die etwas pathetisch gewählten Titel scheinen die Texte schon zu deuten, bevor man überhaupt mit dem Lesen begonnen hat. Zum Glück erweist sich der ehemalige Englischlehrer Stephen King, trotz der fraglos enthaltenen erzieherischen Elemente, als begnadeter Geschichtenerzähler: Eine griffige, schnörkellose Sprache, ein Gefühl für Ton und Slang der verschiedenen Milieus und Äras, die er schildert, und vor allem sein Blick für wesentliche Details lassen die Erzählungen frisch, ehrlich und trotz ihres außergewöhnlichen Inhalts stets lebensnah wirken.

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