Aus dem Weltraum kommend fahren wir am Mond vorbei und gleiten in einer Kreisbewegung langsam auf die Erde zu. Satelliten funkeln im düsteren Schatten des Planeten, hinter dem die Sonne aufgeht. Wir bewegen uns durch eine dünne Wolkenschicht, hinweg über einen Küstenstreifen, hinaus aufs Meer zu einer Fähre. Die weiße Gischt schäumt am Heck. Ein Mann lehnt an der Reling und schaut uns mit festem Blick entgegen. In dem Moment die Augenpartie des Mannes das grobkörnige Breitwandbild ausfüllt, wird weiß aufgeblendet. - Mit dieser gut zweiminütigen Kamerafahrt eröffnet Regisseur Frédéric Schoendoerffer seinen Film Agents secrets. Und dieser Establishing Shot ist programmatisch zu verstehen: Schoendoerffer möchte direkt klarstellen, dass er das Agentenfilmgenre zurück auf die Erde holen wird. Genau das tut er nämlich in den darauffolgenden 100 Minuten.
Die letzten Sekunden des Establishing Shots. Schoendoerffer zitiert sich hier selbst. Bereits Scènes de crimes eröffnete er mit einer elaborierten Kamerafahrt, die auf dem Gesicht eines Mädchens endete. Handelte es sich in Scènes de crimes um das Opfer eines Serienkillers, so endet auch das Leben der Figur in Agents secrets nur wenige Filmminuten später.
Bereits in Scènes de crimes gewann Schoedoerffer dem Krimi eine erschütternd nüchterne Realitätsnähe ab, indem er die Menschen hinter den Fassaden ihrer Berufsrollen zeigte. Schonungslos. Nicht in mainstreamtauglichen Schwarzweißmustern. Und das Gleiche versucht er hier auf die Welt der Geheimagenten zu übertragen. So handelt die erste Hälfte des Films von einem Sabotageakt, der in einem James Bond Film vielleicht fünf oder zehn Minuten Leinwandzeit bekäme. Ein Team von französischen Topagenten soll in Casablanca am Frachter eines russischen Waffenhändlers Bomben anbringen. Die Mission gelingt. Doch am Flughafen wird die Agentin Barbara (kalt aber sinnlich: Monica Bellucci) wegen Drogenbesitzes verhaftet. Wer steckt dahinter? Agent Brisseau (Vincent Cassel) ermittelt auf eigene Faust und muss feststellen, dass Verbrecher und Staatsbeamte nicht auseinanderzuhalten sind. Agents secrets wirft eine Reihe nachdenkenswerter Fragen auf, die sich James Bond oder Jason Bourne niemals stellen brauchen. Wann ist ein Mord zum Schutze des Staates moralisch gerechtfertigt? Welche Instanz trifft diese Entscheidung? Darf ein "guter" Spion seine Aufträge überhaupt in Frage stellen, wenn er die großen Zusammenhänge doch gar nicht kennt? Widerspräche dies nicht seiner eigentlichen Funktion? Und was passiert mit Menschen, die ein solches Leben führen? - Das sind unangenehme Fragen. Fragen, die nicht jeder Freund des Genres gerne gestellt bekommen möchte, was wohl ein Grund dafür ist, warum Agents secrets bei einem Großteil des Kinopublikums 2004 auf Ablehnung stieß. Die Antworten, die Schoendoerffer auf diese Fragen gibt, sind übrigens mindestens ebenso unangenehm wie die Fragen selbst. Am Ende des Films sagt Barabara mit einer Gesichtsfarbe bleich wie ein Bettlaken, sie fühle sich leer, vollkommen leer.
Diese Leere, die nicht nur in, sondern auch zwischen den Figuren herrscht, drückt sich durch einen kontinuierlichen Mangel an Dialogen aus. Die ersten Worte des Films fallen erst nach knapp zwölf Minuten. Es wird nur gesprochen, wenn es absolut notwendig ist. Als Brisseau einmal ein persönliches Gespräch mit Barbara beginnen möchte, blockt sie sofort ab. Glücklicherweise ist Schoendoerffer ein begnadeter Bildkomponist und visueller Geschichtenerzähler. Er braucht keine Dialoge, um den Plot fesselnd zu entfalten.
Agents secrets ist in gewisser Weise eine Dekonstruktion klassischer Agentenfilme. Zwar bietet Schoendoeffer einige Actionsequenzen, aber diese sind niemals schaueffektorientiert, sondern klar handlungsbedingt. Sie fungieren als Erinnerung und Vergewisserung für den Zuschauer, welche Genrekonventionen der Film hinterfragen und neu verhandeln will. Agents secrets ist deshalb nicht weniger spannend als etwa ein Bondfilm. Im Gegenteil: Gerade weil Schoendoerffer eine mögliche französische Variante des britischen Geheimagenten nicht interessiert, entsteht ein neuer Raum, in dem sich eine viel beängstigendere Spannung entwickeln kann.
Frédéric Schoendoerffer ist ein Unikat. Ich kenne keinen Filmemacher, der einerseits so elegant inszeniert, so kunst- und liebevoll die große Leinwand bebildert, andererseits an der Realität interessiert ist, weg möchte vom Artifiziellen des Mainstreamkinos, gleichzeitig aber die Auseinandersetzung mit den großen Hollywoodfilmen sucht. Das hat zweifellos etwas Schizophrenes. Im Fall von Frédéric Schoendoerffer ist das jedoch eine gesunde, belebende, erfrischende Form der Schizophrenie. Ich hoffe, dass er sie sich lange bewahrt und blicke seinem nächsten Werk Truands, das vor zwei Wochen in Frankreich und Belgien angelaufen ist, mit Freude entgegen.
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