Auf dem Cover der Blu-ray steht ein gewaltiger Satz aus der Kritik des New Yorker Time Out von Joshua Rothkopf: De Palma sei eine religiöse Erfahrung für Fans. – Dem ist leider nicht so.
90 Prozent von dem, was Brian De Palma in dieser Dokumentation von Noah Baumbach und Jake Paltrow erzählt, weiß ein Fan nämlich schon – etwa aus den Interviews, die Laurent Bouzereau vor etwa 15 Jahren für die ersten aufwendigen DVD-Veröffentlichungen der De-Palma-Filme durchführte, oder aus Büchern wie Julie Salamons The Devil's Candy, auf das in der Doku natürlich hingewiesen wird.
Die restlichen 10 Prozent haben einen wahrlich sensationellen Informationsgehalt, wenn man an Trivia interessiert ist. Ein Grund hierfür ist zweifelsohne der Tatsache geschuldet, dass im Gegensatz zum DVD-Zusatzmaterial der De Palma-Filme nicht darauf Rücksicht genommen werden muss, Personen zu schonen, die am jeweiligen Projekt beteiligt gewesen waren. So erfährt man beispielsweise, dass Cliff Robertson zur Zeit der Entstehung von Obsession alles andere als ein Schauspieler gewesen zu sein scheint, der daran interessiert war, glaubwürdig seine Rolle zu verkörpern und mit anderen Schauspielern oder dem Kamerateam zusammenzuarbeiten – viel wichtiger war ihm seinerzeit die Bräune seiner Haut. – Oder Robert De Niro: Zwar kostete es eine Irrsume, den Method Actor in Al Capone zu verwandeln (Stichwort: original Seidenunterwäsche, die kein Zuschauer je sah), aber seinen Text auswendig zu lernen, hielt der Starschauspieler zu diesem Punkt in seiner Karriere offenbar nicht mehr für notwendig und bekam ihn von De Palma persönlich während des Schminkens eingetrichtert.
Das sind zwei amüsante Anekdoten über die Entstehung von Obsession und The Untouchables. Sie tragen jedoch nicht dazu bei, das Werk De Palmas besser zu verstehen. Und das gilt in gewisser Hinsicht für große Teile des Films. Zwar stellt De Palma hier erneut seine Qualitäten als Erzähler unter Beweis. Er erklärt sogar den einen oder anderen filmästhetischen Ansatz. Ein roter Faden durch sein Werk wird aber nur ansatzweise gesponnen. Was verbindet seine Filme miteinander? Wie hat er besonders komplexe Szenen und Sequenzen entwickelt? Diese Fragen werden bedauerlicherweise nur manchmal beantwortet.
Deshalb – und ich könnte diese Beobachtung an etlichen anderen Beispielen weiter ausführen – komme ich zum Schluss, dass die eingangs erwähnte Wertung von Joshua Rothkopf („A religious experience for fans‟) im Kern genauso reißerisch wie unzutreffend ist.
Doch jetzt einige Einschränkungen zu diesem Urteil: Baumbach und Paltrow haben zum Beispiel Material ausgegraben, das De-Palma-Fans seit Jahrzehnten dringend sehen wollen. Die Dokumentation geht De Palmas Filme einzeln und chronologisch durch. Alle. Einige gründlicher als andere. Und hierbei gibt es plötzlich verschollene Szenen zu sehen, die man vorher nicht einmal auf den Luxusausgaben der DVDs begutachten konnte. Das wohl prominenteste Beispiel ist das Originalende von Snake Eyes, in dem eine riesige Welle das Atlantic-City-Casino wegwäscht. Damalige Testpublikums verstanden das Ende nicht (De Palmas und David Koepps Überlegung: nur ein göttlicher Eingriff sei in der Lage, einen derart korrupten Sündenpfuhl zu beseitigen). De Palma drehte schließlich ein neues, mit dem er nie ganz zufrieden war.
Überaus schön ist auch der Moment, in dem sich De Palma kurz an die zwei Regisseure hinter der Kamera wendet, um (ihnen) zu erklären, wie unterschiedlich sie Plots und Figuren entwickeln. Im Gegensatz zu ihnen, die ihre Geschichte um die innere Glaubwürdigkeit einer Figur konstruierten, gehe er genau andersherum vor: Ihn interessieren eher unrealistische Momente, die filmisch wirkungsvoll seien. Er brauche deshalb gute Schauspieler, um diese künstlichen Situationen zu erden, also realistischer zu machen. – Dieser Augenblick dringt kurz aber präzise ins Herz von De Palmas Schaffen vor. Denn wer sein Kino liebt, der schätzt in der Regel diese eher unrealistischen Szenen und Plansequenzen besonders, während De-Palma-Kritiker nahezu reflexartig auf deren Künstlichkeit verweisen und/oder einen Hitchcock-Vergleich anstellen. – An dieser Stelle hätte die Dokumentation verweilen können, um die ästhetische Grundhaltung des Regisseurs stärker auszuleuchten. Höchstwahrscheinlich existiert hierzu auch mehr Material, denn De Palma wurde an mehreren Tagen vor dem Kamin in Paltrows Eigenheim zum Interview platziert. Auch Zusatzmaterial auf der Blu-ray wäre eine schöne Ergänzung – doch Fehlanzeige.
Der mittlerweile 76-jährige De Palma klingt am Ende der Doku nicht einmal resigniert, als er erläutert, dass die meisten großen Regisseure ihre besonders kreative Phase zwischen ihren 30ern und 50ern hätten – er führt als Beispiel sogar den Post-Vertigo/Psycho-Hitchcock an: „[..] you can talk about The Birds all you want and all the other movies he made after that. And of course the critical establishment finally caught up with them and started to write about what a genius he was, except those movies aren't as good as the ones he made in his thirties, his forties and his fifties.‟ Zwar spricht De Palma nicht aus, was hier bezüglich des eigenen Werks mitschwingt, aber warum sollte er auch?
Baumbachs und Paltrows De Palma gibt einen schönen und ausführlichen Überblick über die bewegte Karriere und das Gesamtwerk des Regie-Altmeisters. Wirklich neue Erkenntnisse gewinnen Cinephile, die sich mit seinem Œuvre auseinandergesetzt haben, aber eher nicht. Die Doku ist trotzdem sehenswert, weil sich De Palma als überaus unterhaltsamer Erzähler erweist und es den einen oder anderen Leckerbissen in Form von Anekdoten oder bislang unveröffentlichten Szenen zu entdecken gibt.