Sonntag, Dezember 31, 2006

Filmtipp: Grizzly Man


Werner Herzogs Hang zu urwüchsiger Natur und Menschen, die aus ihrem Wahn eine ungeheure Energie schöpfen, ist kein Geheimnis. In seinen Filmen mit Klaus Kinski (z. B. Aguirre oder Fitzcarraldo) ging er an die Grenzen von Natur und Mensch, um sie sodann zu überschreiten. Diese Filme handelten von einer zugleich anmutigen wie grausamen Natur, in der sich stets eine getriebene Figur zu behaupten versuchte. Dabei war die Entstehung dieser Filme ein ebensolcher Prozess der Auseinandersetzung mit diesen schwer kontrollierbaren Urgewalten. In seinem grandiosen Filmessay Mein liebster Feind huldigte Herzog seiner Faszination, indem er tiefgründig über sie sinnierte.

Herzogs Dokumentation Grizzly Man zeigt, dass ihn diese zwei Themen noch immer reizen. Aus über einhundert Stunden Filmmaterial des Bären-Narren Timothy Treadwell und Interviews mit dessen Freunden, Familie und Bekannten montiert er das einzigartige Portrait eines Naturfreaks auf einem Selbsterfahrungstrip.


Timothy Treadwell bei seiner Arbeit.

Timothy Treadwell lebte 13 Sommer unter Grizzlybären, bis er im Jahre 2003 zusammen mit seiner Freundin Amy des Nachts von einem gefressen wurde. Treadwell gab sich dem Wahn hin, er müsse die Bären beschützen. Vor wem, das wusste er allerdings selbst nicht so genau. In Wahrheit war die idyllisch anmutende Landschaft des Katmai-Nationalparks in Alaska ein Refugium für den Zivilisationshasser Treadwell. Bei den Bären fand er ein Leben abseits der Menschen, das ihm bei der Suche nach sich selbst half und ihn gleichermaßen mit einem Lebenssinn erfüllte. Dieses Leben in der Wildnis wurde zu seiner Religion. Und wenn man seine Videotagebücher sieht, versteht man sofort, warum. Treadwell liebte die Bären mit jeder Faser seines Wesens. Er spricht mit ihnen in liebevoller Babysprache, tritt bis auf Körpernähe an sie heran und strahlt wie ein Kind unterm Weihnachtsbaum beim Berühren ihres noch warmen Kots.

Sein Zelt schlägt er gelegentlich zwischen zwei Fuchsbauten auf, damit er Besuch von deren Bewohnern bekommt. Und die lassen nicht lange auf sich warten. Seit Jennifer Jones' Spiel mit ihrem Fuchs in Gone to Earth, hat man solche Aufnahmen nicht mehr in einem Film gesehen. Treadwell habe eine unsichtbare Grenze überschritten, kommentiert Herzog an einer Stelle dessen Zusammenleben mit den Bären. Herzog bewundert Treadwells Filmkunst, seine Methodik und Gabe zur Improvisation: Auch den Momenten der Stille und der unbeabsichtigten Geschehnisse wohne eine poetische Kraft inne, die man nicht künstlich herstellen könne und die Treadwells Aufnahmen jenseits eines gewöhnlichen Naturfilms ansiedeln. - Es sind freilich auch diese Momente, die Grizzly Man so sehenswert machen.

Die vielleicht spektakulärste Szene des Films zeigt den minutenlangen Kampf zweier Bären um ein Weibchen (Treadwell: "The Michelle Pfeiffer of bears."). Die zwei riesigen Muskelpakete bewegen sich zunächst langsam und graziös aufeinander zu, bevor plötzlich der Kampf explodiert. Fell und Kot wirbeln durch die Luft und als der Kampf schließlich vorüber ist, marschiert Treadwell zum gründlich durchwühlten Boden, kommentiert den Kampf wie ein Sportreporter und ist dabei voller Bewunderung über die Kraft der zwei Giganten.

Hajime! Zwei fast vier Meter große Kolosse beim Kampf, der wirkt, als würden zwei monströse Judoka aufeinander losgehen.

Im zivilisatorischen Leben war Treadwell unzufrieden, bastelte an seiner Identität. Er änderte seinen Namen, legte sich einen australischen Akzent zu, hatte ein Alkoholproblem und litt an Depressionen. Doch auch in der Natur holten ihn seine Dämonen hin und wieder ein. So wird sein harmonisches Weltbild schnell erschüttert, wenn er mit der mitunter grausamen Realität der Natur konfrontiert wird. Beispielsweise wenn er einen toten Jungfuchs findet oder miterleben muss, wie die männlichen Bären ihre Kinder töten, damit die Weibchen schneller für den Fortpflanzungsakt zur Verfügung stehen. Während Treadwell diese Geschehnisse in seinem Videotagebuch weinerlich beschreibt, schaltet Herzog sich distanzierend ein und erläutert seine eigene, eher düstere Sicht auf die Welt: Der gemeinsame Nenner des Universums seien Chaos, Feindseligkeit und Mord.

Auch auf Treadwells Tod geht der Film ein. Als Treadwell starb, lief seine Kamera. Der Deckel war auf der Linse, aber den Ton des Todeskampfes zeichnete sie auf. Zum Glück bleiben dem Zuschauer diese Momente erspart. Der Leichenbestatter beschreibt den sechsminütigen Kampf Treadwells. Seine Freundin Amy habe vergeblich mit der Bratpfanne auf den Kopf des Grizzlys eingeprügelt. Als Herzog sich das Band vor laufender Kamera anhört, bricht er nach kurzer Zeit ab.

Herzog kreuzt in Grizzly Man idyllische Naturaufnahmen mit dem Psychogramm eines sympathischen Wahnsinnigen. Saftig grüne Wiesen, funkelnde Seen und blaugraue Bergketten sowie einmaliges Videomaterial von wild lebenden Grizzlys wechseln sich ab und durchdringen sich mit der Psychostudie Timothy Treadwells, einem Mann auf dem wohl ungewöhnlichsten Selbsterfahrungstrip, den das Kino je gesehen hat.

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